„Klimamüdigkeit“: Wird die Nachhaltigkeits-Wende gecancelt?

  Im September 2021 fand die Wahl zum 20. Deutschen Bundestag statt, mit überraschendem Ergebnis. Die SPD erhielt mit 25,7 % die meisten Stimmen, die CDU/CSU folgte mit 24,1 %, die GRÜNEN 14,8 %, die FDP 11,5 %. Die AfD erhielt 10,3 % und die CSU 5,2 %. Die LINKE (4,9 %) und der SSW (0,1 %) profitierten davon, dass sie aus verschiedenen Gründen von der Fünfprozenthürde ausgenommen waren. Die Merkel-Epoche war beendet und SPD, FDP und GRÜNE machten sich auf den Weg, den Stillstand zu beenden und Deutschland zu modernisieren. Heute, gut 1 Jahr vor der nächsten Bundestagswahl ist festzuhalten, dass die meisten auf Nachhaltigkeit zielenden Modernisierungsvorhaben nicht recht vorangekommen sind. Auch in Wirtschaft und Zivilgesellschaft ist wenig davon zu merken, dass das Land mit Schwung an die dringend notwenige Modernisierung herangeht. Insbesondere die dringend notwendige Nachhaltigkeitswende ist eher in Verruf gekommen als spürbar voran. Woran liegt’s?

  Vor der Wahl hatte sich bei immer mehr Menschen die Einsicht durchgesetzt, dass der Klimawandel und mit ihm verbunden die Reduzierung der Artenvielfalt, die Plastikschwemme in den Meeren, die zunehmende Versiegelung der Böden und andere Erscheinungsformen nicht-nachhaltigen Lebens zu einer ernsten Bedrohung unserer Existenzgrundlagen geworden war. Zunehmende Hitzewellen auch in Mitteleuropa und nicht zuletzt die Jahrundertflut im Ahrtal hatten diese Einsicht drastisch gefördert. Auf allen Ebenen wurde ein spürbares Umsteuern von vielen als unausweichlich betrachtet.  Der freiwillige Rückzug der Dauerkanzlerin Angela Merkel, der Streit um die Kanzlerkandidatur zwischen CDU und CSU sowie nicht zuletzt der peinliche Lacher des CDU Kanzlerkandidaten Armin Laschet führten bei vielen zu einem politischen Stimmungswechsel, der einen Machtwechsel nahelegte. Die Wahl brachte die entsprechenden Ergebnisse. GRÜNE und FDP suchten gemeinsam – zunächst ohne die SPD – nach Auswegen und fanden sie in der vermeintlichen Fortschrittskoalition unter Führung der SPD mit Kanzler Olaf Scholz. Dass sie dabei die fundamentalen Unterschiede zwischen ihren Parteien und den sie tragenden politischen Grundüberzeugungen hintanstellten, galt damals als mutig und vielversprechend.

  Seit der Wahl ist viel passiert. Frisch gewählt und ins Amt gelangt, musste erst einmal die Corona-Pandemie bewältigt werden. Die Wirtschaft war nicht zuletzt durch Quarantänebestimmungen und angeordnete Schließungen ins Stocken geraten und rief nach Staatshilfen, statt aus eigenen Kräften die Wiederbelebung anzugehen. Dann überfiel Putins Russland die Ukraine und schuf eine völlig veränderte geopolitische Lage. Durch die ausbleibenden russsischen Gaslieferungen geriet die Energieversorgung geriet in Schwierigkeiten. Die humanitäre und vor allem die militärische Untertützung der Ukraine erforderten erhebliche Anstrengungen und führten zu einer Totalrevision der Militärpolitik. Nicht nur erhebliche Waffenlieferungen an die Ukraine, sondern auch ein Hundert-Milliarden-Euro Finanzprogramm für die militärische Ertüchtigung der Bundeswehr führten zu unvorhergesehenen Zusatzausgaben für den Staat.

  Die Fortschritts-Koalition verlor den anvisierten Fortschritt zunehmend aus dem Auge und widmete sich konventionellen Schadensabwehrmaßnahmen. Der grüne Wirtschaftsminister reiste in den nahen Osten, um zusätzliche Gaslieferungen zu aquirieren. An der Nordseeküsten wurden Terminals für die Anleiferung von Flüssiggas per Schiff aus dem Boden gestampft. Das war fast schon panisch, schuf aber ein Gefühl von Versorgungssicherheit. Dass Flüssiggas nicht nur eine fossile Energieform, sondern auch mit erheblichen Gewinnungsschäden beim sog. Fracking  verbunden ist, wurde ebenso mißachtet wie ökologische Schäden im Zusammenhang mit der Errichtung der Terminals. Immerhin gab es – erwartungsgemäß unwirksame – Bemühungen zur Beendigung des aufgezwungenen Krieges, der, von den Personen- und Sachschäden einmal abgesehen, zudem noch eine der umweltschädlichsten Formen nicht-nachhaltigen Handelns darstellt.

  Und dann war da ja auch noch immer die von rechts hochgeschriebene illegale Migration. Sie und die mit ihr verbundene Tatsache, dass von der Politik versprochene Abschiebungsmaßnahmen von unerwünschten, nicht asylfähigen außerauropäischen Ausländern sich als de facto unmöglich erwiesen, führten zu einem politischen Rechtsruck nicht nur, aber auch in Deutschland. Schlagworte wie „Asyltourismus“ und Zuzug in die „soziale Hängematte“ des Bürgergelds machten Karriere und sorgten für politischen Sprengstoff.

  Um die geplante Energiewende nicht ganz aus dem Auge zu verlieren, wurde ein gut gemeintes, aber im Ergebnis schlecht gemachtes „Heizungsgesetz“ entwickelt, das den gesellschaftlichen Stimmungswandel massiv beförderte. Für BILD, FOCUS und die Opposition innerhalb und außerhalb der Koalition war das ein gefundenes Fressen. Der Wirtschaftsminister und mit ihm die GRÜNEN insgesamt wurden zu den meistgehassten und in den „sozialen“ Medien verunglimpften Politikern. Und das, obwohl es eine erhebliche staatliche Förderung für den Einbau von Wärmepumpenheizungen gibt.

  Schlussendlich setzte das Bundesverfassungsgericht noch einen drauf und verschärfte die Finanzlage des Bundes erheblich. Der Nachtragshaushalt, mit dem nicht benötigt Mittel für Corona umgewidmet und dem Klima- und Energiefonds verfügbar gemacht werden sollte, wurde als verfassungswidrig eingestuft.  Die Ampel verlor nicht zuletzt wegen öffentlich ausgetragenem innerkoalitonären Haushalts-Dauerstreit massiv an Zustimmung, AFD und das sog. Bündnis Sarah Wagenknecht gewannen Stimmen dazu, die sie bei der Europawahl zu ernsthafter Konkurrenz für die demokratischen Parteien werden ließen.

  Und jetzt stehen auch noch die Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg vor der Tür. Da muss man noch Schlimmeres befürchten.  Den Ampel-Parteien werden heftige Stimmverluste vorhergesagt, die AFD wird als vermutlicher Wahlsieger angesehen. Ob die Ammpel diese Wahl übersteht, wird sich zeigen.

  Und die Wirtschaft? Insbesondere die energieintensiven „alten Industrien“, Chemie, Glas und Stahl hatten die Energiewende ohnehin eher distanziert betrachtet und als Gefahr für ihre Geschäftsmodelle angesehen. Den großen Energieerzeugern und -verteilern war nutzungsnah erzeugte grüne Energie, die von den Bürgern selbst gewonnen wird, von Anbeginn ein Dorn im Auge. Denn sie macht Großkaftwerke und Fernleitungen weitgehend überflüssig. Die Autoindustrie vollzog den Schwenk hin zur Elektromobilität ohne für den Normalbürger finanzierbare Klein- oder Mittelklassewagen auf den Markt zu bringen. Weiter bestehende Reichweitenprobleme und ein immer noch dünnes System von Ladestationen machten E-Autos jedoch zu Ladenhütern. Öffentliche Verkehrsmittel wurden zwar mit dem sog. Deutschlandticket finanziell attraktiv gemacht, sind aber von ihrem Leistungsangebot nach wie vor im Hintertreffen gegenüber dem Individualverkehr. Vor allem die Bahn vergraulte ihre Kunden mit einem monatelangen Dauertarifkonflikt und immer weiter zunehmenden Zugausfällen und –verspätungen. Nur dauerhaft leidensbereite Fahrgäste bleiben ihr treu. Trotzdem bekommen die Bahnvorstände immer noch attraktive Boni zusätzlich zu ihrem ohnehin nicht gerade schmalen regulären Salär.

 Natürlich gibt es auch zukunftsfähige Wirtschaftsmodelle. Da ist zum einen die Digitalwirtschaft, die Soft- und Hardware für die anstehende Digitalisierung entwickelt. Aber sie ist zum einem in Fernost und in den USA zuhause, zum anderen auch nicht gerade Freund der Nachhaltigkeitswende. Die Computerisierung der Welt ist ein wahrer Energiefresser, der gegenüber der analogen Welt erheblichen Energiemehrbedarf notwendig macht. Es würde ein erheblich gesteigertes Ausbautempo erfordern, wenn außer dem Ersatz der fossilen Quellen auch noch der Mehrbedarf der digitalen Nutzung durch erneuerbare Quellen gespeist werden soll. Kaum darstellbar. Dennoch wird die Ansiedlung von Chipfabriken in Deutschland mit mehrstelligen Milliardenbeträgen politisch gefördert. Alles andere als nachhaltig!

  Zukunftsfähig sind sicher die vielen Startups, die sich Nachhaltigkeit nicht nur in ihrer Werbung, sondern vor allem in ihren praktischen Problemlösungen zum Ziel gesetzt haben. Zum Beispiel Entwickler von Hochleistungsspeichern, die aktuell nicht benötigten Solar- und Windstrom speichern und in Dunkelflaute-Zeite wieder einspeisen können. Zum Beispiel Landwirte, die weg von der industriellen Landwirtschaft Formen ökologischen Landbaus wie die Agroforstwirtschaft oder ökologische Tierhaltung erproben und damit der Vergiftung von Feld und Flur Einhalt gebieten. Zum Beispiel Bauunternehmen, die Häuser entwickeln und bauen, die mehr Energie erzeugen als sie verbrauchen und dabei intelligente Formen generationenübergreifenden Wohnens ermöglichen.  Sie alle sind derzeit vor allem mit dem Aufbau ihrer Unternehmen beschäftigt. Politische Lobbyarbeit können sie kaum leisten und werden daher vielleicht mal mit publikumswirksamen Gründerpreisen bedacht, nicht aber wirklich ernsthaft gefördert.

  Und wir Bürgerinnen und Bürger? Bei uns sinkt Befragungen zufolge die Bereitschaft, aus Umweltschutzgründen auf Komfort und Bequemlichkeit zu verzichten. Psychologen begegnen uns zunehmend mit Verständnis dafür, dass sich Phänomene wie „Klimamüdigkeit“ breit machen, dass wir zwar immer noch mit großer Mehrheit das Bemühen um Nachhaltigkeit für gut und richtig halten, aber selbst doch lieber das gewohnte Schnitzel aus Billigfleisch verzehren und den Urlaubsflug oder die Kreuzfahrt zu fernen Zielen nicht drangeben wollen. Denken wir wirklich, der Klimawandel und das Artensterben, die Vermüllung der Weltmeere und die Unbewohnbarmachung größerer Teile der Welt seien Zukunftsfragen, die irgendwann, aber nicht heute und morgen gelöst werden müssen? Statt Vorsorge zu treffen, bauen wir die Häuser in Ahrtal zum großen Teil an genau der Stelle wieder auf, wo sie vor der Flut gestanden haben, aus „Heimatverbundenheit“. War die „Vor-Ampel-Klimaschutz-Bereitschaft“ nur ein vorübergehendes Lifestyle-Attribut, das so schnell es gekommen ist, auch wieder verschwindet?

  Um eines ganz deutlich zu sagen: Nicht wir einzelnen Bürger oder auch die Zivilgesellschaft als Ganze sind es, die über die Macht verfügen, Wirtschaft und Gesellschaft spürbar und wirksam in Richtung Nachhaltigkeit zu entwickeln. Die „großen“ Entscheidungen werden in der Politik und in der Wirtschaft getroffen,  wobei ich ausdrücklich die hier niedergeschriebene Reihenfolge nicht als Bedeutungsreihenfolge verstanden wissen möchte. Nicht wir Bürger entscheiden über das Energiesystem, das Steuersystem oder die Anbau- und Fertigungsstrukturen in der Lebensmittelproduktion oder in der Verkehrswirtschaft. Wir können sie vielleicht ein wenig im Nachhinein korrigieren, mehr aber auch nicht. Aber wir können nein sagen. Das müssen wir vor allem dann tun, wenn uns ein X für ein U vorgemacht werden soll, wenn die einen von Nachhaltigkeit reden, aber nur kosmetische Korrekturen vornehmen, und die anderen uns weismachen wollen, dass wegen der notwendigen Subventionierung von Dienstwagen mit oder ohne E-Antrieb kein Geld für die Bekämpfung des Klimawandels da sei. Dass wir einfach so weitermachen wie bisher, uns in die Bequemlichkeitssänfte zurückziehen, werden uns unsere Kinder nicht verzeihen.