Schuldenbremse – Garant für Generationengerechtigkeit?

 

   In diesen Tagen berät die Berliner Ampel über den Bundeshaushalt 2025, der planmäßig im Laufe des Juli im Kabinett verabschiedet werden soll, damit er nach der Sommerpause im Bundestag beraten und beschlossen werden kann. Auch wenn sich Kanzler, Vizekanzler und Finanzminister dem Vernehmen nach auf einen Kompromiss verständigt haben, gehen die Vorstellungen der drei an der Koalition beteiligten Parteien und Fraktionen zum Haushalt weit auseinander. Vor allem an der sog. Schuldenbremse scheiden sich die Geister. Die FDP und der Kanzler beharren auf ihrer Einhaltung, Grüne und SPD wollen sie eigentlich aussetzen. Was ist insbesondere unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten angebracht?

 

  

  Im Spätherbst 2023 hat das Bundesverfassungsgericht ein folgenreiches Urteil  gefällt: Vom Bund unter Aussetzung der Schuldenbremse aufgenommene 60 Mrd.€, die für die Corona-Bekämpfung gedacht waren, aber nicht mehr benötigt wurden, dürfen nicht umgewidmet und stattdessen für Klimaschutzmaßnahmen verwendet werden. Die Schuldenbremse beschränke die zusätzliche Kreditaufnahme auf außergewöhnliche Notsituationen wie die Corona Pandemie und erlaube daher keine beliebige andere Verwendung, so das Gericht.

 Politiker werden auf Zeit gewählt. Nach Ablauf einer Wahlperiode möchten sie gern wiedergewählt werden. Daher neigen sie dazu, ihrer Wählerklientel manchmal Wahlgeschenke zu machen, damit sie ihnen gewogen bleibt. So setzte die FDP vor Jahren unter Kanzler Kohl die Reduktion der Mehrwertsteuer für Hotelübernachtungen durch, um ihrer Hoteliersklientel etwas Gutes zu tun. Angeblich flossen sogar zusätzliche Parteisspenden.  Es ist also nicht von der Hand zu weisen, dass eine gesetzliche Regelung, die die übermäßige Aufnahme von Staatsschulden durchaus sinnvoll sein kann.

  Daher gibt es in Deutschland im Grundgesetz und in den Landesverfassungen Regelungen, die die Schulden des Staates begrenzen, und zwar nicht erst seit kurzem. Bereits in der ersten Fassung des Grundgesetzes gab es solche Regelungen. Sie sahen vor, dass die Neuverschuldung im Normalfall die geplanten Investitionsausgaben nicht übersteigen durfte. Eine Ausnahme war zulässig „zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts.“ Zudem durften sog. Sondervermögen gebildet werden, also zweckgebundene Schattenhaushalte außerhalb des eigentlichen Etats, finanzierbar aus Steuermitteln oder Krediten  Eine Kontrolle war nicht vorgesehen. Dennoch wuchsen die Staatsschulden immer weiter.

  Daher wurde auf Vorschlag der von Bund und Ländern gemeinsam eingerichteten Föderalismuskommission II von Bundestag und Bundesrat 2009 mit der dazu notwendigen 2/3-Mehrheit die Einführung einer neuen wirksameren Schuldenbremse beschlossen. Hintergrund dieser Entscheidung war die im Zuge der Welt-Finanzkrise 2007/2008 erheblich gestiegene Neuverschuldung des Staates im Umfang von mehr als 450 Mrd.€ zur Abwehr eines Kollaps des Finanzsystems, sprich zur Rettung „systemrelevanter“ Banken.

  Die neue Schuldenbremse soll dafür sorgen, dass die öffentlichen Haushalte grundsätzlich ohne dauerhaftes (strukturelles) Defizit (Länder) bzw. mit sehr geringem strukturellem Defizit (Bund) finanziert sind. Die einzelnen Regelungen finden sich in Art. 109 und Art. 115 GG. Inzwischen haben auch Bundesländer die Schuldenbremse in ihre Landesverfassungen übernommen. Die nicht konjunkturbedingte jährliche Nettokreditaufnahme des Bundes darf danach maximal 0,35% des Bruttoinlandsproduktes betragen. Für die Länder ist sie ganz verboten. Ausnahmen sind zulässig bei Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen wie etwa der Corona Pandemie oder dem Ukrainekrieg.

  Auch in der EU gibt es Vereinbarungen bzw. daraus abgeleitete Regeln zur Staatsverschuldung. Seit 1992 gelten für die EU-Länder, die der Währungsunion angehören wollen, die sog. Maastricht-Kriterien, wonach das jährliche gesamtstaatliche Finanzierungsdefizit 3 Prozent des BIP nicht überschreiten darf und der Schuldenstand insgesamt nicht mehr als 60% des BIP betragen darf. Diese Regeln wurden im Stabilitäts- und Wachstumspakt 1997 fixiert, aber wiederum nicht mit wirksamen Sanktionen unterlegt. Tatsächlich werden sowohl die jährlichen Defizitquoten als auch die Regeln zum Gesamtschuldenstand von sehr vielen EU-Ländern überschritten. Sie betragen z.B. in Griechenland, Italien und Frankreich deutlich über 100% und im Durchschnitt der Eurozone knapp 90%. Deutschland ist mit ca. 63% des BIP im europäischen Mittelfeld, aber immer noch geringfügig über dem Zulässigen.  Folgen? Fehlanzeige.

  Dennoch oder gerade deshalb wurden diese Regeln als zu streng kritisiert und in einer Neufassung 2024 verändert. Danach soll bei der Beurteilung einzelner Länder deren spezifische Situation künftig stärker berücksichtigt werden. Andererseits gelten schärfere Regeln zum Schuldenabbau. Über 90 Prozent verschuldete Länder müssen ihre Schuldenquote jährlich um einen Prozentpunkt senken, Länder mit Schuldenständen zwischen 60 und 90 Prozent um 0,5 Prozentpunkte. Die Kommission kann allerdings Ausnahmen zulassen.  Insgesamt eine Mischung aus Flexibilisierung und verschärfter Sanktionierung. Im EU Parlament gibt es daher viel Kritik insbesondere von den oppositionellen Linken und Grünen. Ob die Sanktionen wirklich eingesetzt und im Gegensatz zur bisherigen Praxis wirksam durchgesetzt werden, wird die Zukunft zeigen müssen.

  Schuldenbremsen überall, aber selten ernsthaft beachtet. Wirklich sinnvoll? Wenn Staaten Geld ausgeben, dann schaffen sie damit im Normalfall Leistungen für ihre Bürgerinnen und Bürger. Staatsausgaben zu begrenzen fordern daher vor allem diejenigen politischen Kräfte, denen ein starker Staat suspekt ist, weil sie den Markt, sprich die private Wirtschaft generell für leistungsfähiger halten, den Staat eher der Misswirtschaft und der Verschwendungsneigung verdächtigen.

 Beobachtet man den tatsächlichen Stand der staatlichen Leistungen, dann fällt schon auf, dass in Deutschland vieles im Argen liegt, z.B. :

  •  · Der Zustand der öffentlichen Gebäude, insbesondere der Schulen und Krankenhäuser, ist schlecht.
  •  · Die Verkehrsinfrastruktur auf Straße und insbesondere Schiene ist miserabel.
  •  · Der Stand der Digitalisierung entspricht dem eines durchschnittlichen Entwicklungslandes.
  •  · In der Gesundheitsversorgung, der Pflege und der öffentlichen Kinderbetreuung gibt es gravierende Probleme.
  •  · Spätestens seit Beginn des von Russland begonnenen Unkrainekrieg wissen wir: Auch die Bundeswehr ist u.a. wegen
       überalterter Ausrüstung nicht verteidigungsfähig.

  Auch was die Bemühungen um die Transformation in Richtung Nachhaltigkeit angeht, wird von Experten ein erhebliches Defizit beklagt, hervorgerufen vor allem durch allzu zögerliche staatliche Aktivitäten wie schleppenden Ausbau erneuerbarer Energien, gering wirksame Maßnahmen zur Umstellung der landwirtschaftlichen Produktion und vieles andere. Ist der Staat also, wie die Neoliberalen behaupten, tatsächlich ein miserabler Wirtschafter, dem das Steuergeld seiner Bürger*innen nicht ausreicht, der also immer mehr Schulden macht und trotzdem nichts auf die Reihe bekommt?

  Lässt man die Entwicklung der letzten Jahrzehnte Revue passieren, dann fällt eine Tendenz ins Auge. Spätestens seit Anfang der 80er Jahre verabschiedet sich der deutsche Staat, insbesondere der Bund, aus immer mehr Bereichen der Daseinsvorsorge und agiert vorrangig zur Förderung der privaten Wirtschaft. Markt vor Staat heißt die Devise der verschiedenen schwarz-gelben Regierungen und Parlamentsmehrheiten. Bereits ab 1979/80 war in den USA und Großbritannien unter Ronald Reagan und Margaret Thatcher der Neoliberalismus zum Regierungsprogramm erhoben worden. Helmut Kohl wird mit der folgenden Aussage zitiert: „Eine Wirtschaftsordnung ist umso erfolgreicher, je mehr sich der Staat zurückhält und dem einzelnen seine Freiheit lässt.“

  Staatsunternehmen wie die Lufthansa, Salzgitter AG und VIAG wurden zuerst privatisiert. Fernsehen, Energie- und Wasserversorgung, Bahn, Telekommunikation und Post folgten Ende der 80er/Anfang der 90er-Jahre zumindest teilweise. Nach der Wende übertrug die eigens dafür geschaffene Treuhandanstalt 13.000 volkseigene Betriebe und mehr als 22.000 Geschäfte, Gaststätten und Hotels in private Hände, vor allem in die Hände westlicher Investoren, unter Inkaufnahme eines massiven Arbeitsplatzverlusts und erheblicher politischer Schäden bei den Bürger*innen der ehemaligen DDR.

  Nach der Kohl-Ära ging es unter Rot-Grün weiter und wurde ansteckend. Autobahnraststätten wurden privatisiert und Bundesanteile an den Flughäfen Hamburg und Frankfurt/Main verkauft. Die Länder und Kommunen zogen nach und verkauften Kliniken, kommunale Wohnungsbestände und ließen im Bildungsbereich viele Privateinrichtungen zu. Bis heute hat sich der deutsche Staat von etwa 90% seiner Beteiligungen getrennt. Statt öffentlicher Daseinsvorsorge mit expliziter Sozialkomponente griff Gewinnerzielungsabsicht Platz. Auch in den Bereichen, die unter staatlicher Regie blieben, griff ein Denken Platz, dass dem Streben nach finanziellem Erfolg Vorrang gab vor sachlichen Gesichtspunkten der Daseinsvorsorge.

  Parallel dazu wandelte sich die soziale Marktwirtschaft zunehmend in ein turbokapitalistisches Wirtschaftssystem nach US-amerikanischem Vorbild. Gewachsen war seit dem Wirtschaftswunder der sog. rheinische Kapitalismus, gekennzeichnet durch Sozialpartnerschaft, durch Mitbestimmungsregelungen in Betrieben und Unternehmen, durch die duale Berufsausbildung, ausgeprägte staatliche Regulierung und in der Bevölkerung geteilte Werte des sozialen Ausgleichs und der Bereitschaft zur Wahrnehmung gemeinschaftlicher Anliegen. Deren Strukturen wurden zunehmend umgestaltet in ein vom Finanzkapitalismus gesteuertes System, das soziale Grenzen einreißt, Kündigungsschutzregeln abbaut und dem von staatlichen Eingriffen weitgehend befreiten Spiel der Marktkräfte Raum gibt. So wuchs mit den Jahren immer mehr die Kluft zwischen der „normalen“ Bevölkerung mit geringen Einkommen und Vermögen und Reichen und Superreichen, die zunehmend reicher und mächtiger wurden.

  In einem solchen System werden dem Staat einerseits abgesehen von gern in Anspruch genommenen Subventionen für die Wirtschaft immer weniger wirtschaftspolitische Gestaltungsmöglichkeiten zugestanden, andererseits muss er zur Abfederung wachsender ökonomischer Probleme des ärmeren Teils der Bevölkerung in zunehmendem Umfang Sozialleistungen übernehmen. So ist der Etat des Sozialministeriums 2024 mit mehr als 175 Mrd.€ der mit Abstand größte des Bundeshaushalts. Die beiden bedeutendsten Posten sind der staatliche Zuschuss zur Rentenversicherung mit knapp 45 Mrd. und das Bürgergeld mit 26,5 Mrd.  Es folgen Wohn- und Heizungsgeld-Zuschüsse und Erstattungen des Bundes für die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderungen.

  Die staatliche Pflege der Sachbestände dagegen kommt immer mehr unter die Räder. Hier wird seit vielen Jahren auf Verschleiß gefahren. Neubauprojekte, vor allem im Straßenbau, die den verantwortlichen Politikern medienwirksame Eröffnungszeremonien bescheren, haben oftmals Vorrang vor Erhaltungsmaßnahmen, die vorhandene Bestände sichern, aber sich kaum politisch verwerten lassen. Daher ist es nicht übertrieben zu konstatieren, dass der deutsche Staat in eine echte Notlage gerutscht ist, die – von den obengenannten gesetzlichen Maßnahmen abgesehen – nur durch erhebliche investive Ausgaben in die sachliche Staatsausstattung behoben werden kann.

  Geboten sind eine Umkehr der Prioritäten und eine Abkehr vom neoliberal kaputtgeschrumpften Staat. Das Steuersystem muss so umgestaltet werden, dass die finanziell Leistungsfähigen einen ihrer Finanzkraft angemessenen Beitrag zur Staatsfinanzierung leisten. Dazu sind nicht nur eine steilere Progression bei der Einkommensteuer notwendig, sondern auch die Wiedereinführung der Vermögenssteuer und die Erhöhung der Erbschaftssteuer. Staatsschulden zum Wiederaufbau der Infrastruktur sind nicht nur zulässig, sondern wegen der beschriebenen Notlage geradezu dringlich, wenn sie Bestände sichern und pflegen helfen und die Leistungsfähigkeit des Staates verbessern.

  Hinzu kommen immense Aufgaben im Zusammenhang mit der ökologischen Transformation. Dazu braucht es einen finanziell gut dastehenden Staat, nicht das Einhalten der Schuldenbremse um jeden Preis. Es braucht einen Staat, der sich auf seine Grundaufgaben der öffentlichen Daseinsvorsorge besinnt und diese an Gesichtspunkten der sachlichen Gebotenheit, nicht an solchen der finanziellen Vorteilhaftigkeit orientiert. Wenn die kommenden Generationen die Staatsschulden bedienen müssen, sollen sie dazu imstande sein, weil sie in einem sozialen Gemeinwesen leben, das ihnen persönliche und politische Entwicklungsmöglichkeiten und eine gesunde Umwelt bietet. Das wäre Generationengerechtigkeit. Das uneinsichtige Beharren auf der strikten Einhaltung der Schuldenbremse und der Verzicht auf eine sozial-ökologische Umgestaltung des Staatshaushalts und des Steuersystems sind kurzsichtiger neoliberaler Populismus.