Märchen spielen eigentlich immer in der Vergangenheit und beginnen mit: „es war einmal vor langer Zeit….“ Es gibt aber auch Märchen, die in der Zukunft angesiedelt sind, Science-Fiction-Geschichten. Ein solches Zukunftsmärchen erzählt die Gaswirtschaft seit längerem und immer mehr Politiker und Journalisten übernehmen den Narrativ: „Wasserstoff ist die Kohle der Zukunft, grüner Wasserstoff wird all unsere Energieprobleme lösen.“ Was ist davon zu halten?
Wasserstoff ist das Gas, das im Periodensystem der Elemente an erster Stelle auftaucht, „ganz oben links“ mit der Ordnungsziffer 1. Es ist ein sehr flüchtiges Gas, das unter Normalbedingungen auf der Erde molekular als H2, vorkommt. Der überwiegende Teil des Vorkommens ist in Verbindung mit Sauerstoff im Wasser gebunden. Die Gewinnung von als Brennstoff nutzbarem Wasserstoff, wie sie aktuell diskutiert wird, basiert daher auf einer Aufspaltung von H2O in H2 und O. Dazu wird in erheblichem Umfang elektrische Energie benötigt.
Wasserstoff ist vielseitig verwendbar und daher wirtschaftlich begehrt, derzeit z.B. bei Hochtemperaturprozessen in der Industrie, künftig in der Luft- und Seeschifffahrt sowie im Schwerlastverkehr auf der Straße. So könnten Schiffe und Flugzeuge mit Wasserstoff als Treibstoff angetrieben werden. Wasserstoff-Züge können auf Bahnlinien fahren, die sich nicht elektrifizieren lassen. Einen optimistischen Einstieg liefert der halbstündige Film des Bayerischen Rundfunks.
Ob industriell erzeugter molekularer Wasserstoff wirklich eine nachhaltige Energiequelle darstellt, hängt vor allem von der Art des für seine Erzeugung eingesetzten Stroms ab. Hier hat sich eine bunte Farbpalette abgestufter ökologischer Wertigkeiten eingebürgert, je nach der verwendeten Energiequelle des Stroms:
- Grauer Wasserstoff wird aus fossilen Brennstoffen und Wasser in mehreren Prozessschritten gewonnen. Als Abfallprodukt entsteht CO₂.
- Blauer Wasserstoff wird ebenfalls aus fossilen Brennstoffen und Wasser gewonnen. Das CO₂ wird jedoch aufgefangen und in die Erde verpresst.
- Türkiser Wasserstoff wird aus Erdgas in thermischen Prozessen gewonnen. Dabei findet eine Aufspaltung in Wasserstoff und Kohlenstoff statt.
- Gelber Wasserstoff wird aus Wasser mittels Elektrolyse gewonnen. Dazu wird ein Strommix aus fossilen und erneuerbaren Quellen eingesetzt.
- Pinker Wasserstoff wird aus Atomstrom und Wasser gewonnen.
- Allein für grünen Wasserstoff wird nur Strom aus erneuerbaren Energiequellen verwendet.
Es liegt auf der Hand, dass für eine nachhaltige Produktion und Nutzung von Wasserstoff nur grüner Wasserstoff infrage kommt. Hier gilt das Gleiche wie für Strom, nur mit dem Unterschied, dass die Wasserstoffproduktion in Summe deutlich mehr Strom erfordert, als wenn der aufgewandte Strom direkt, ohne „Umweg“ über Wasserstoff, z.B. in Wärmepumpen genutzt würde. Bereits dadurch schränkt sich das Nutzungsspektrum von Wasserstoff aus zweierlei Gründen stark ein:
- durch die Verfügbarkeit grünen Stroms, die derzeit weit hinter dem Bedarf für eine umfängliche Umstellung auf Wasserstoff zurück bleibt
- durch den Energieverlust, der bei der Wasserstoffelektrolyse in Kauf genommen werden muss. Er liegt derzeit bei etwa 30%, in PKWs sogar bei 80% der eingesetzten Primärenergie. Hier müssten technologische Innovationen den Wirkungsgrad deutlich verbessern, um die Nutzung von Wasserstoff sinnvoll zu machen.
Nicht zu vergessen ist die mögliche Nutzung von Wasserstoff als Energiespeicher. Da insbesondere Wind und Sonne als Quellen erneuerbarer Energie nicht stetig verfügbar sind, aber manchmal mehr Strom erzeugen als aktuell gebraucht wird, kann hier die Umwandlung von überschüssigem Strom in Wasser diesen als Speicher für spätere Verwendung nutzen. Da derzeit Speicher für grünen Strom nur in viel zu geringem Maße verfügbar sind, ist diese Nutzungsvariante attraktiv. Dies gilt insbesondere für Windstrom, der bei starkem Wind in erheblich größerem Umfang anfällt, als genutzt werden kann und daher ohne Speicherung „abgeregelt“, sprich weggeworfen werden muss. Die derzeit vorhandenen Anlagen, die dies leisten könnten, verfügen aber nur über eine Kapazität für die Speicherung von 2% der derzeit abgeregelten Windstrommenge.
In jedem Fall sind für die Erzeugung und Nutzung von „grünem“ Wasserstoff erhebliche Investitionen erforderlich. Wollte Deutschland aus eigenen Kräften so viel grünen Wasserstoff herstellen, wie zum flächendeckenden Einsatz erforderlich wäre, müsste es die grüne Stromerzeugung aus Wind, Sonne, Wasser und Biogas in einem Maße ausbauen, das derzeit unvorstellbar ist. Der Bedarf an grünem Wasserstoff und daraus hergestellten Treibstoffen läge bei jährlich knapp 1,1 Billionen Kilowattstunden, 20.000 mal so viel, wie heute erzeugt wird. Wolkenkuckucksheim! Selbst mittelfristig müssten 85-90% des benötigten grünen Wasserstoffs importiert werden.
Daher schickt die Berliner Ampel ihre Minister in die Welt hinaus, um Abkommen zur Lieferung von grünem Wasserstoff zu schließen, die allerdings sicher auch nicht zeitnah zur Lieferung relevanter Mengen führen werden. Afrika (z.B. Namibia und Marokko), Australien, Canada, aber natürlich auch die Golfregion sind hier potentielle Partner.
Für die Länder des globalen Südens ist es jedoch nicht vertretbar und schon gar nicht nachhaltig, in größerem Umfang eine solare Wasserstoffproduktion für den Export in Industrieländer aufzubauen. Oft haben die Menschen dort nicht einmal selbst Zugang zur Stromversorgung. Und die lokale Stromerzeugung ist alles andere als nachhaltig, basiert sie doch weitgehend auf Kohle. Schließlich kommt für uns hinzu, dass notwendige Importe neue Abhängigkeiten produzieren, die - wie wir im letzten Jahr schmerzhaft lernen mussten –nicht unproblematisch sind.
Ein weiteres Problem, das die Frage der Nachhaltigkeit von „grünem“ Wasserstoff ebenfalls berührt, ist der Transport vom Erzeuger zum Nutzer. Hier kommen grundsätzlich Pipelines, Schiff und LKW infrage. Politik und Gaswirtschaft werden nicht müde zu behaupten, viele der bestehenden oder im Bau befindlichen Pipelines für Erdgas könnten hierfür genutzt werden. Das trifft aber nicht zu. Denn Wasserstoff stellt andere und zum Teil erheblich höhere Anforderungen an die Dichtigkeit und das Material der Pipelines als fossiles Gas. In die vorhandenen Gasleitungen kann Wasserstoff nur bis zu einem relativ geringen Anteil dem fossilen Gas beigemischt werden. Für die Dekarbonisierung ist das keine tragbare Alternative. Reine Wasserstoff-Pipelines gibt es in Deutschland aber aktuell nur drei „kleine“: im Ruhrgebiet, in Leuna und in Höchst. Die Leitungen müssten also mit erheblichen Kosten- und Materialaufwendungen erneuert werden. Für den internationalen Transport sind Pipelines schon der Entfernung wegen kaum sinnvoll, von der Gefahr von Sabotageakten einmal ganz abgesehen.
Für den Transport per Schiff muss Wasserstoff mit erheblichem Energieeinsatz verflüssigt und dann wieder in Gasform zurückverwandelt werden. Das ist nicht nur ökonomisch, sondern auch ökologisch sehr aufwändig und schmälert die Nachhaltigkeit der Wasserstoffnutzung spürbar, zumal wenn die Schiffe selbst mit Schweröl angetrieben werden. LKWs können nur geringe Mengen transportieren, kommen also nur für die Belieferung der Endverbraucher infrage, die keinen direkten Leitungsanschluss haben. Auch wenn die Gasindustrie anderes behauptet: Wasserstoff zu transportieren ist deutlich schwieriger als Erdgas. „Grüner“ Wasserstoff ist ein Energieträger, der weite Transportwege notwendig macht und deshalb einer nachhaltigen, nutzungsnahen Energiewirtschaft widerspricht.
Mein Urteil: Wieder einmal wird mit der Umstellung auf eine Wasserstoff-Wirtschaft eine technologische Innovation propagiert, die es uns angeblich ermöglicht, so weiter zu leben und zu wirtschaften wie bisher, nur eben „nachhaltig“. Zum einen aber ist diese Innovation zu weiten Teilen Wolkenkuckucksheim, weil noch sehr viel Zeit ins Land gehen wird, bis auf diesem Wege die Energieversorgung auf dem derzeitigen oder gar einem künftig noch höheren materiellen Wohlstands-Niveau dekarbonisiert werden kann. Ob das überhaupt in vollem Umfang gelingen kann, ist sehr fraglich. Zum anderen ist auch diese Innovation mit erheblichen ökologischen und sozialen Nachteilen verbunden, vor allem dem Aufbau neuer Anlagen für Produktion, Speicherung und Transport, so dass den vermeintlichen Nachhaltigkeitsgewinnen deutliche –verluste gegenüberstehen, die von den Protagonisten zumeist verschwiegen werden.
Für die Gaswirtschaft ist das Projekt eine willkommene Rechtfertigung für die Fortschreibung des weitgehend unveränderten eigenen Geschäftsmodells, das auf großen Produktionseinheiten und langen Transportwegen basiert (und möglichst auch die Weiternutzung fossilen Gases beinhalten sollte). Die Politik scheint auch bei dieser Frage den Einflüsterungen der Lobbyisten zu erliegen, die auch bei diesem Thema emsig tätig sind. Zudem ist es für sie ein Weg, der Bevölkerung unbequeme „Zumutungen“ ersparen zu können, die die eigene Wiederwahl gefährden könnten.
Wer ernsthaft Nachhaltigkeit befördern will, muss darauf hinwirken, dass zwar die Nutzung von grünem Wasserstoff als Energieträger weiter erforscht und auch in den Bereichen gefördert wird, für die sie sinnvoll ist, wie z.B. aus meiner Sicht die Hochtemperaturproduktion oder der Flug-, Bahn und Schiffsverkehr (nicht aber der PKW-Verkehr). Hinzu kommt sicher die Nutzung als Speichermedium für überschüssigen, weil aktuell nicht nutzbarem grünen Strom. Immer wieder aber muss gesagt werden, dass insgesamt in Europa und Nordamerika von allem deutlich weniger produziert und verbraucht werden muss als bisher. Ein „Weiter so“ kann es auch mit grünem Wasserstoff nicht geben.