Heute in 50 Tagen ist die nächste Bundestagswahl. Wie immer wird sie als besonders richtungsweisend hochgejazzt. Tatsächlich ist sie in zweierlei Hinsicht von größerer Bedeutung als die vorherigen Wahlen. Angela Merkel, seit 16 Jahren Bundeskanzlerin, tritt nicht mehr an. Und in der kommenden Legislaturperiode müssen entscheidende Weichen für die Zukunft vor allem in Hinblick auf die Bewältigung der Klima- und Nachhaltigkeitsprobleme gestellt werden. Ich habe mir deshalb einmal genauer angesehen, was in den vorgelegten Wahlprogrammen zu diesem Thema gesagt wird. Hier meine Eindrücke.
Spätestens seit dem CDU/CSU Kandidatenstreit zwischen Laschet und Söder und der KandidatInnen-Kür bei den Grünen werden in den Medien überwiegend die vermeintlichen persönlichen Stärken und Schwächen der zu Kanzlerkandidaten ausgerufenen Personen durchgehechelt. Wer ist überhaupt geeignet, in die großen Fußtapfen der ewigen Kanzlerin zu treten? Ist Laschet mehr als ein rheinischer Karnevalsprinz? Kann Baerbock als junge Mutter überhaupt so einen Job ausfüllen? Ist Scholz mehr als ein Abgesang auf Willy Brandt und Helmut Schmidt? Als ginge es um persönliche Sympathien und sonst um nichts. Als könnten die Wähler den Kanzler oder die Kanzlerin direkt wählen. Dabei steht der ganze Politikbetrieb in Berlin zur Wahl. Und es geht um wichtige Zukunftsfragen wie die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen, den Umgang mit der weltweiten Migration, die Revolutionierung von Wirtschaft und Gesellschaft durch die Digitalisierung, um die Beseitigung der Bildungsdefizite, des Wohnungsmangels und des Infarkts unserer Städte, um nur die wichtigsten Fragen zu nennen.
Außer der Nominierung von Wahlkreis- und Listenkandidaten stellen die Parteien aber auch ihre
politischen Zukunftsperspektiven vor, die sie auf Parteitagen diskutieren und in Wahlprogrammen den Bürgerinnen präsentieren. Welchen Stellenwert geben sie darin der politischen Begegnung u.a.
des menschengemachten Klimawandels, des Artensterbens, des übermäßigen Ressourcenverbrauchs und der Vergiftung der Meere und mit welchen Maßnahmen wollen sie dagegen vorgehen, dass wir mit
unserem Lebens- und Wirtschaftsstil dabei sind, unsere Lebensgrundlagen zu verzehren? Natürlich ist Nachhaltigkeit nicht das einzige Thema, das für Wahlentscheidungen bedeutsam ist. Wer wie ich
aber meint, dass es eines der wichtigsten ist, sollte sich weniger für vermeintliche Plagiate in den Büchern der KandidatInnen interessieren als dafür, wie die Parteien mit Nachhaltigkeitsfragen
umgehen wollen. Hier mein Überblick.
Die AFD macht es dem nachhaltigkeitsinteresssierten Wähler recht einfach. Denn für sie gibt es eigentlich keine Nachhaltigkeitsprobleme. Sie leugnet, dass Menschen für den Klimawandel verantwortlich sind. Sie will daher das Pariser Klimaabkommen kündigen, die Transformation der Gesellschaft in Richtung Nachhaltigkeit ebenso wie die Stillegung der Atomkraftwerke stoppen und das Erneuerbare Energiengesetz, mit dem die Energiewende herbeigeführt werden soll, ersatzlos streichen, weil es die Stromkosten unnötig in die Höhe treibt. Von 15 Punkten ihres Wahlprogramms behandeln die letzten drei Nachhaltigkeitsthemen, und das mit dem Tenor: Schluss mit der Technologiefeindlichkeit und dem Klimaaktionismus. Kommentar überflüssig.
CDU/CSU legen ein „Programm für Stabilität und Erneuerung“ vor. Auf 140 Seiten werden 10 Programmpunkte abgehandelt. Bereits Punkt 3 thematisiert Nachhaltigkeitsfragen unter der Überschrift „Neuer Wohlstand – mit nachhaltigem Wachstum zum klimaneutralen Industrieland“. Bereits hier wird das Nachhaltigkeitsverständnis der Partei deutlich. Klimaschutz, Wirtschaftswachstum und Soziale Sicherheit sind nach Auffassung der Union drei gleichwertige Aspekte der Nachhaltigkeit. Daher propagiert die Partei ein „Entfesselungsprogramms“ für die Wirtschaft. „Vernunft statt Ideologie, Entlasten statt Belasten, Innovationen statt Verbote, Chancen statt Ängeste, Machen statt Meckern.“ Diese Slogans klingen schon ziemlich ähnlich wie die der AFD.
Tatsächlich formuliert die Union aber durchaus auch ökologische Ziele: Bis 2045 will sie Klimaneutralität in Deutschland erreichen, vor allem mit Hilfe des bereits prakztizierten Emissionshandels, den sie international ausbauen und dessen Aufkommen sie an Bürger und Unternehmen mit der Pendlerpauschale und der Abschaffung der EEG-Umlage zurückgeben will, die die von ihr dominierten Vorgängerregierungen allerdings erst zu dem Monstrum gemacht haben, das sie heute ist. Zur Vermeidung von Wettbewerbsnachteilen für die deutsche Wirtschaft soll die Erhöhung des CO2-Preises nicht in nationalen Alleingängen eingeführt werden. Zudem zum Beispiel Ausgleichslasten für den Import aus weniger nachhaltig produzierenden Ländern eingeführt und für stromproduzierende Unternehmen Ausgleichszahlungen zur Abfederung von Marktpreisschwankungen eingeführt werden. Nachhaltigkeit ohne zusätzliche Lasten für die Wirtschaft, scheint das Motto.
Damit steht die Nachhaltigkeitspolitik, die die Union propagiert, in der Tradition der unionsgeführten Vorgängerregierungen. Die dort gesetzten Ziele und Maßnahmen, von denen Experten sagen, dass sie in die richtige Richtung gehen, aber viel zu zaghaft sind, werden fortgeschrieben. Technische Innovationen z.B. im Bereich der grünen Energien und der Energieeffizienz von Gebäuden sollen gefördert werden. Deutschland soll zum Pionier der Wasserstofftechnologie werden, obwohl höchst zweifelhaft ist, wie das selbst mit einem drastischen Ausbau grünen Stroms nachhaltig sein kann. Die Kreislaufwirtschaft soll gestärkt werden. Wald- und Landwirtschaft sollen für Nachhaltigkeitsakivitäten honoriert werden. Das Lebensmittel Wasser soll geschützt, der Hochwasserschutz ausgebaut werden. Kein Wort dazu, dass die seit 2000 in Kraft befindliche europäische Wasserrahmenrichtlinie von den Merkel-Regierungen nicht wirklich umgesetzt wurde, was z.B. für die Flutkatastrophe im Westen Deutschlands mitverantwortlich ist. Steuererhöhungen, mit denen eine anspruchsvolle Nachhaltigkeitsförderung finanziert werden könnte, werden abgelehnt. Der Abbau von nachhaltigkeitsschädlichen Subventionen wie z.B. den Verzicht auf eine Flugbenzinsteuer oder das Dienstwagenprivileg kommt nicht vor. Was nachhaltige Mobilität angeht, wird der Vorrang der Schiene beschworen, aber auch die wirtschaftliche Bedeutung der Autoindustrie betont. Tempolimits auf Autobahnen werden abgelehnt, Schifffahrt und Flugverkehr sollen staatliche Förderung für die Entwicklung nachhaltiger Technologien erhalten, obwohl in näherer Zukunft weder für Schiffe noch für Flugzeuge nachhaltige Antriebe in Aussicht sind.
So lesen sich die Ausführungen des Wahlprogramms der CDU/CSU im Wesentlichen als „weiter so“. Immerhin stellt die Union ja auch seit 16 Jahren die Kanzlerin. Neue Handlungsfelder wie etwa die Verringerung der Produktion und des Einsatzes von Kunststoffen, die massive Förderung einer bäuerlichen Landwirtschaft oder der Um- und Ausbau von klimaschonender Infrastruktur kommen nicht vor. Alles in allem: Wirtschaft stärken, Wachstum fördern und gerade so viel Nachhaltigkeitsgesichtspunkte beachten, dass die gesellschaftlichen Kräfte, die diesen Aspekten große Bedeutung beimessen, ruhig gestellt werden.
Kommen wir zur FDP, deren Nachhaltigkeitsverständnis der Kabaretist Till Reiners kürzlich mit dem Slogan „FDP – fick den Planeten“ karikierte. Sie erweist sich erneut als diejenige Partei, der es vor allem darum zu gehen scheint, die Wirtschaftsnähe der CDU/CSU noch zu übertreffen. Denn sie wiederholt in ihrem Wahlprogramm das gebetsmühlenhafte Credo ihres Bundesvorsitzenden: Unternehmenssteuern runter, schlanker Staat, Entfesselung der Wirtschaft von Bürokratie, Wachstum über alles. Die Politik mag im Nachhaltigkeitsbereich die Ziele setzen, deren Umsetzung soll sie aber dem Markt überlassen. Um nicht den Klimaschutz in anderen Ländern zu finanzieren (?), soll dessen Umsetzung durch WTO-konforme Zölle auf nicht nachhaltig produzierte Waren angestoßen werden. Ansonsten soll es der deutsche Erfindergeist richten. Technische Innovationen wie z.B. Geoengineering, alternative Kraftstoffe, intelligente Stromspeicher werden erwähnt. Die Beförderung von Verhaltensänderungen bei Unternehmen und BürgerInnen ist kein Thema. Dass der Staat z.B. auch durch den Abbau von nachhaltigkeitsfeindlichen Subventionen schlanker werden könnte, fällt der Partei nicht ein. Insgesamt darf der Leser und Wähler von der FDP nicht erwarten, dass sie sich an die Spitze der Umwelt- und Klimaschutz-Bewegung stellt. Wer den seinerzeit von Christian Lindner an die F4F-Aktivisten gerichteten Rat beherzigen will, sie mögen die Klimaschutz- und Nachhaltigkeitspolitik den Experten überlassen, kann die FDP nicht wählen, denn er wird in der Partei nach Maßgabe dieses Wahlprogramms niemanden finden, der eine solche Politik ernsthaft in Angriff nehmen will.
Die GRÜNEN sind ihrem Selbstverständnis nach so etwas wie der parlamentarische Arm der Klimaschutz- und Nachhaltigkeitsbewegung. Ihr Wahlprogrammversucht daher auch, diesem Anspruch gerecht zu werden. Der erste von insgesamt 6 Hauptpunkten des Programms trägt den Titel „Lebensgrundlagen schützen“.
Unter diesem Punkt werden alle Facetten einer nachhaltigen Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland systematisch angesprochen, mit deutlicher Betonung der Klimaproblematik: klimagerechter Wohlstand, erneuerbare Energien, nachhaltige Mobilität, Naturschutz, nachhaltige Landwirtschaft, Tierschutz. Auch bei der politischen Umgestaltung der Wirtschaft ist deren Beitrag zur Nachhaltigkeit die Grundorientierung. Förderung nachhaltiger Unternehmensgründungen, Schaffung eines sozial-ökologischen Rahmens für die Märkte, fairer und nachhaltiger Handel, nachhaltige Finanzmärkte. Soziale Nachhaltigkeit will die Partei durch Familienförderung, faire Löhne und soziale Grundsicherung, leistungsfähige Gesundheitsvorsorge, die Bereitstellung bezahlbarer Wohnungen und die Belebung der Städte auf den Weg bringen.
Dabei werden nicht nur Ziele formuliert, sondern es werden viele konkrete Maßnahmen aufgeführt. Ein Mix aus monetärer Steuerung z.B. über eine wirksame CO2-Bepreisung mit sozialem Ausgleich über ein pro Kopf gleiches Energiegeld, weiteren Anreizen und Fördermaßnahmen, aber auch die Verschärfung des Ordnungsrechts und der Abbau von Subventionen sollen eingesetzt werden. Erneuerbare Energien sollen auch von den Bürgern und Bürgerinnen vor Ort ohne die derzeitigen bürokratischen Hürden erzeugt werden können, neue nachhaltige Unternehmen sollen im Rahmen einer Gründungsinitiative entstehen, den alten Industrien werden Anreize in Aussicht gestellt, um sich in Richtung Klimaneutralität zu entwickeln. Sozialunternehmen und Genossenschaften sollen ebenso wie die sog. Purpose-Unternehmen gestärkt werden. Das Konzept der Gemeinwohlökonomie wird gefördert, aber die sog. Freihandelsabkommen wie TTIP, CETA und Mercosur werden in ihrer derzeitigen Form abgelehnt.
Die anvisierte Entwicklung soll gleich nach der Wahl durch ein 1,5o Sofortprogramm eingeleitet
werden. Gesetzliche Initiativen auf allen Fachgebieten sollen stes im Hinblick auf Nachhaltigkeitsfolgen geprüft werden. Kann man mehr Drive in Richtung Nachhaltigkeit erwarten? Immerhin
kritisiert der BDI das Programm schon als Einstieg in eine grüne
Planwirtschaft.
Kritiker aus der Fridays For Future-Bewegung und aus der eigenen Partei jedoch halten das grüne Programm für viel zu mutlos. „Der Entwurf liest sich wie ein Wohlfühlkatalog für alle: Faire Löhne, Geschlechtergerechtigkeit, solider Haushalt, stabile Finanzmärkte, nachhaltige Mobilität, Förderung von Bildung und erneuerbaren Energien – diese Ziele würden in dieser oder ähnlicher Form auch fast alle Konkurrenten der Grünen unterschreiben,“ schreibt z.B. der Blog greenspotting. Und weiter: „Die Grünen umschiffen alles, was nach zu viel Zumutung aussehen könnte. Teilen und abgeben: Kommt praktisch nicht vor. Nichts fürchten die Oberökos anscheinend mehr, als sich erneut dem Vorwurf auszusetzen, eine Verzichtspartei zu sein. Lieber locken sie den Wähler mit „klimagerechtem Wohlstand“. Der tut nicht weh.“
Und in der Tat, dass gutes Leben unter dem Primat der Nachhaltigkeit vor allem weniger von vielem oder – positiv formuliert - „Befreiung vom Überfluss“ heißt und dass wir alle dazu vielleicht auch mit politischem Druck politisch bewegt werden müssen, kommt im Wahlprogramm der GRÜNEN nicht vor. Das Programm ist alles andere als „Mutig für Morgen“ wie ein vielfach plakatierter Slogan der Partei lautet. Weil sie in der Vergangenheit mit Forderungen nach einer Erhöhung des Spritpreises auf 5 DM, dem Vorschlag eines Veggie-days für Kantinen oder der Anregung, auf allzu häufige Flugreisen zu verzichten, Stürme von Kritik geerntet haben kommen im Wahlprogramm derartige „Zumutungen“ nicht vor. Also auch hier: die Richtung ist deutlich weitreichender formuliert als bei den anderen Parteien, aber ziemlich zaghaft. Dass die Politik in der kommenden Legislaturperiode den Menschen in Deutschland spürbare Änderungen abverlangen muss, wird nicht kommuniziert.
Ihrem Anspruch folgend, vor allem den sozial Schwachen eine Stimme zu geben und deren Interessen zu vertreten, stehen im Wahlprogramm der LINKEN ökologische Aspekte und Vorhaben der Partei nicht an vorderster Stelle. Zwar tritt die Partei für einen grundlegenden „sozialökologischen Politikwechsel“ ein, Nachhaltigkeitsfragen thematisiert sie jedoch erst unter Punkt 6 ff. ihres Wahlprogramms. Am Anfang stehen Ausführungen zu Arbeit und Lohn, Rente, Pflege-, Gesundheits- und Bildungspolitik. Dann erst kommt der Klimaschutz an die Reihe. Und der ist wie viele andere Fragen aus Sicht der LINKEN vor allem eine „Klassenfrage“, die nur mit einer grundsätzlichen Abkehr vom privatwirtschaftlichen Profitdenken gelöst werden kann. „Während die Reichsten für einen überdurchschnittlichen Anteil der klimaschädlichen Treibhausgasemissionen verantwortlich sind, sind die Armen von Umweltveränderung und Verschmutzung am stärksten betroffen.“ So sind denn die Maßnahmen, die die LINKE vorschlägt, dieselben, mit denen sie auch für gerechten Lohn, bezahlbare Wohnungen, gute Gesundheitsversorgung usw. sorgen will: Ausbau der Staatsaktivitäten, Enteignungen und strenge ordnungsrechtliche Vorgaben für Unternehmen. Daher wird im Abschnitt Klimaschutz immer wieder auf die Ausführungen zu anderen Politikfeldern verwiesen.
So richtig es aus meiner Sicht auch ist, die bisherige „marktkonforme“ und vornehmlich auf technologische Innovationen setzende Nachhaltigkeitspolitik zu kritisieren, so wenig scheint mir für den propagierten sozialökologischen Umbau gewonnen, wenn nur erst einmal die großen Konzerne verstaatlicht und gerechte Löhne und Renten durchgesetzt worden sind. Und dass mächtige Gewerkschaften sich für innovative nachhaltigkeitsorientierte Unternehmen einsetzen, wo sie doch vor allem die Beschäftigten der „alten“ Industrien als Mitglieder haben, ist eher unwahrscheinlich. Das haben die Erfahrungen der Anti-Atomkraft-Bewegung hinreichend bewiesen. Auch heute kommt heftiger Widerstand gegen den schnellen Ausstieg aus dem Braunkohletagebau und der Kohleverstromung von den Gewerkschaften dieser Branchen.
Die „große Transformation“ hin zu einer nachhaltigen Wirtschaft und Gesellschaft, wie sie der Wissenschaftliche Beirat Globale Umweltveränderungen schon in seinem Gutachten von 2011 fordert, kann nicht mit den alten Instrumenten des Klassenkampfs gewonnen werden. Die im Detail oft zutreffende Kritik der LINKEN an nicht-nachhaltigen wirtschaftlichen Strukturen wird von der Partei nicht in ein den heutigen Anforderungen gerecht werdendes politisches Programm übersetzt. So findet man z.B. keinen Programmpunkt „Bedingungsloses Grundeinkommen“, mit dem zahlreiche soziale und wirtschaftliche Gegenargumente z.B. gegen eine weitreichende Arbeitszeitverkürzung aufgefangen werden könnten.
Meine Kritik am grünen Wahlprogramm lautete: „zaghaft und mutlos“. Den Vorwurf, nicht mutig zu sein, muss sich die SPD-Spitze von ihrer eigenen Parteibasis traditionell nicht erst anhören, seit Gerhard Schröder Kanzler
war. Was das Thema Nachhaltigkeit angeht, trifft dieser Vorwurf aus meiner Sicht aber auch auf ihr Wahlprogramm 2021 zu.
„Zukunft.Respekt.Europa“ so lauten die Generalthemen. Das klingt mehr wie kommerzielle Reklame als wie ein ernsthaftes politisches Programm. Unter der Rubrik Zukunft wird die Partei dann allerdings doch konkreter. Hier geht es um Klimaneutralität, modernste(?) Mobilität, digitale Souveränität und ein Update für die Gesundheit. Sieht man auch hier vom störenden Werbesprech einmal ab, dann rangiert der aktuell meistdiskutierte Aspekt der Nachhaltigkeit, nämlich Klimaschutz und Klimaanpassung, auch für die SPD an vorderster Stelle. Was dazu dann aber kommt, sind vor allem hehre Ziele: 2045 klimaneutral, 2040 nur noch grünen Strom. Als Instrument setzt die Partei vor allem auf den CO2-Preis, sagt aber nicht konkret, ob und auf welche Höhe sie ihn anheben will. Ansonsten: Förderung des Einsatzes von Solartechnik, Abschaffung der EEG-Umlage, Einsatz von grünem Wasserstoff „für die klimaneutrale Erzeugung von Stahl, für CO2-arme PKWs, LKWs und den Schiffs- und Flugverkehr“. So attraktiv wie „grüner“ Wasserstoff klingen mag, Experten halten seinen umfänglichen industriellen Einsatz für allenfalls langfristig realisierbar. Denn es müsste in erheblichem Umfang zusätzlicher grüner Strom erzeugt werden, was Deutschland aus eigener Kraft kaum stemmen kann, da auch für die Mobilität und die Gebäudeheizung erheblich mehr Ökostrom notwendig wird, als in absehbarer Zeit hergestellt und verteilt werden kann. Wolkenkuckucksheim ist kein realistisches Wahlprogramm.
Unter „modernster“ Mobilität versteht die Partei ein Verkehrssystem, das den Schadstoffausstoß auf Null reduziert: „Klimaneutrale Mobilität für alle.“ Bis wann und in welchem Mix zwischen Bus, Bahn, Fahrrad und Auto, wird nicht verraten. „2030 sollen mindestens 15 Millionen PKW in Deutschland voll elektrisch fahren.“ Das ist ambitioniert, denn derzeit fahren nur etwa 365.000 reine E-Autos auf deutschen Straßen. Bei den mit staatlicher Finanzhilfe geförderten Neuzulassungen liegen die ökologisch kontraproduktiven Hybridmodelle nach wie vor vorn. In der ersten Hälfte 2021 wurden 149.000 reine E-Autos neu zugelassen, aber 163.000 Plug-In-Hybride. Das aber heißt immerhin, dass 2021 bereits fast halb so viele echte E-Autos neu zugelassen wurden wie in der gesamten Zeit davor. Bis ausnicht einmal einer halben Million aber tatsächlich 15 Mio. werden, hat eine von der SPD geführte Bundesregierung noch viel Arbeit vor sich. Und ob das wirklich den großen Sprung in Richtung Nachhaltigkeit bedeutet, ist ohnehin sehr zweiffelhaft.
Was den Umbau der Wirtschaft in Richtung Nachhaltigkeit angeht, klingen die sozialdemokratischen Vorschläge ähnlich wie die grünen: die öffentliche Hand soll Aufträge nach dem Kriterium der Nachhaltigkeit vergeben, öffentliche Investitionen sollen an diesem Kriterium ausgerichtet werden. Gemeinwohlorientierte Unternehmen sollen ebenso wie Purpose-Unternehmen besonders gefördert werden. Sozial-ökologischer Wandel ist die Zauberformel. Dass dieser Wandel in gleichem Maße den Niedergang vieler derzeit erfolgreicher nicht-nachhaltiger Geschäftsmodelle beinhalten wird, kommt auch in diesem Programm nicht vor. Warum eigentlich nicht?
Diese Frage führt mich zu meinem Urteil über die in den Wahlprogrammen der derzeit im Bundestag vertretenen Parteien beschriebene Nachhaltigkeitspolitik. Bei allen Unterschieden, die hoffentlich deutlich geworden sind, habe ich zumindest bei den Parteien, die überhaupt eine solche Politik für sinnvoll halten, zwei signifikante Ähnlichkeiten festgestellt:
1. Sie reduzieren das Nachhaltigkeitsthema – wenn auch in unterschiedlichem Umfang – nahezu völlig auf den Klimawandel. Zu den anderen ebenfalls weitreichenden Problemen – Ressourcenverschwendung, Vergiftung von Luft, Meeren und Böden, Artensterben, Flächenversiegelung und weltweitem Vorbildcharakter der westlichen Länder - finden sich allenfalls kurze Hinweise, aber keine ausgearbeiteten Politikentwürfe.
2. Sie halten sich an den Poesiealbum-Vers, der da lautet: „Mach es wie die Sonnenuhr, zähl‘ die heiteren Stunden nur.“ Die Wahrheit über den unverzüglichen und tiefgreifend in unser Leben eingreifenden Charakter einer wirksamen Nachhaltigkeitspolitik wird nicht gesagt, sei es weil die jeweilige Partei sie selbst nicht wahrhaben will oder weil sie sie den Wählerinnen und Wählern nicht ungeschminkt zumuten mag. Die Wahlprogramme verkommen immer mehr zu dem, was die Wahlplakate an unseren Laternenmasten schon lange sind, zu Reklame, die nur noch frohe Botschaften und schöne Aussichten kommuniziert.
Natürlich ist es verständlich, dass sich die Parteien nicht allzu weit vorwagen, den Wählerinnen und Wählern einen Politikwechsel schmackhaft zu machen, der wie bisher auch in der Presse, den sozialen Medien und vom politischen Gegner als Dirigismus, Bevormundung oder Planwirtschaft dargestellt wird. Hier ist die mündige Bürgerin gefragt, die so weit zu denken vermag, dass sie erkennt, wo ihr ein X für ein U verkauft oder eben der notwendige Politikwechsel erläutert und begründet wird. Und die zwischen Wahrheit und Fake ebenso zu unterscheiden vermag wie zwischen Luftschlössern und realistischen Konzepten.
Haben die Parteien wirklich Angst davor, dass die Menschen so satt geworden sind, dass sie die ganze Wahrheit nicht aushalten und deshalb nur einer Partei ihre Stimme geben werden, die ihnen vorgaukelt, es bräuchte allenfalls ein paar Modifikationen des Weiter-So?
Die Fakten sind doch:
· Wir verzehren in atemberaubenden Tempo unsere Lebensgrundlagen: Der Erdüberlastungstags als der Tag, an dem ein Land die ihm pro Jahr zukommenden Naturreserven aufgebraucht hat, lag in diesem Jahr in Deutschland am 5. Mai .
· Der Weltklimarat hat gerade in diesen Tagen seine aktualisierten Berechnungen zum Klimawandel vorgelegt. Die internationalen Experten sind sich sicher, dass der Klimawandel deutlich schneller vorankommt als bisher angenommen und dass es schneller Gegenmaßnahmen bedarf, um z.B. Extremwetterereignisse noch zu beherrschen.
Sind dies Fakten, die in Wahlprogrammen und Politikentwürfen keinen Platz haben, weil sie zu drastisch die notwendigen Veränderungen und Einschränkungen erkennbar machen?
Mein skeptisches Resümee: die große Transformation ist von der Politik allein weder im nationalen noch erst recht im internationalen Maßstab zu erwarten. Was mit der F4F-Bewegung begonnen hat, muss weitergeführt und ausgebaut werden. Nur als weltweite Basisbewegung kann durchgesetzt werden, was an Veränderung nötig ist und was in Wirtschaft und Gesellschaft beginnen muss und bei jeder/m Einzelnen nicht aufhören darf.