Nicht zuletzt wegen der von vielen als persönliche Bedrohung wahrgenommenen Coronakrise sind derzeit nahezu alle anderen Themen von hohem gesellschaftlichen Belang weit in den Hintergrund der öffentlichen Diskussion gerückt. Und das obwohl ihr Bedrohungspotential deutlich höher ist als das von Corona. Das gilt insbesondere für die Klimakrise im Verbund mit den vielen anderen menschlichen Naturzerstörungen wie Artensterben, Ressourcenschwund und Meeresvermüllung, um nur einige zu nennen. Dennoch ist es auf diesem Feld nicht völlig ruhig, eher im Gegenteil. Die Präsidentin der EU-Kommission Ursula von der Leyen wird nicht müde, ihren europäischen „Green Deal“ vom Dezember 2019 auf Pressekonferenzen weiter auszubreiten. Kürzlich hat sich auch Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier mit einem „Vorschlag für eine Allianz von Gesellschaft, Wirtschaft und Staat für Klimaneutralität und Wohlstand“ zu Wort gemeldet und darin eine weitreichende Umgestaltung Deutschlands gefordert. Demgegenüber stehen z.B. mit dem deutschen Kohleausstiegsgesetz und dem europäischen Verbot von Plastik-Trinkhalmen politische Maßnahmen von ausgeprägter Mutlosigkeit bzw. sehr begrenzter ökologischer Reichweite. Diese Handlungslücke ist diskussions- und erklärungsbedürftig, wie ich finde.
Der europäische Green Deal (dank Donald Trump sind Deals aus der Politik wohl nicht mehr wegzudenken) umfasst ein anspruchsvolles Paket von Vorschlägen zu politischen Maßnahmen für eine ökologische Erneuerung der Europäischen Union. Die Union soll bis 2050 vollständig klimaneutral werden. Dazu will die EU-Kommission neue Energiegesetze auf den Weg bringen, die den Anteil grünen Stroms massiv erhöhen und den Netzausbau voran bringen. Mit Hilfe der Ausdehnung des sog. Emissionshandels z.B. auf den Flug- und Schiffsverkehr soll der CO2-Ausstoß erheblich reduziert werden. Im internationalen Handel sollen CO2-Ausgleichsabgaben eingeführt werden, um „schmutzige“ Importe zu reduzieren und „grüne“ Exporte zu fördern. Für die industrielle Produktion soll eine weitreichende Kreislaufstrategie eingeführt werden, die den Ressourcenverbrauch reduziert und den Eintrag schädlicher Stoffe in die Umwelt vermeidet. Bauen und Wohnen soll energie- und ressourcenschonend erfolgen. Der Schadstoffausstoß von Autos soll deutlich reduziert werden. Schließlich und nicht zuletzt soll die europäische Landwirtschaft grüner und regionaler werden („vom Hof auf den Tisch“) und auch dadurch soll der Erhalt der natürlichen Ökosysteme und der Biodiversität gefördert werden. All dies soll von den EU-Mitgliedsländern gemeinsam in die Tat umgesetzt werden.
Auch die Politik der EU selbst soll im Hinblick auf die Nachhaltigkeit umgestaltet werden, sowohl bei der Aufstellung und Umsetzung des Haushalts, bei Investitionen und Finanzierungen, bei Forschung und Lehre sowie beim Abschluss internationaler Handelsabkommen, die nicht ohne ausdrücklichen Nachhaltigkeitsbezug ausgestaltet und abgeschlossen werden sollen. Insgesamt will die EU weltweiter Vorreiter in Sachen Nachhaltigkeit werden und so andere Länder zur Nachahmung anregen. Klingt super, nicht wahr!
Und Deutschland? Will dem keineswegs nachstehen, jedenfalls wenn es nach dem aktuellen Wirtschaftsminister geht, der vor nicht allzu langer Zeit ja auch mal Umweltminister war. Er will mit einer Klimaschutz-Charta Wirtschaft und Umwelt „versöhnen“. Und er findet deutliche Worte, die man als Selbstkritik deuten könnte: „Wir wissen seit mehr als drei Jahrzehnten, dass wir mit fortschreitendem Klimawandel einer globalen ökologischen Katastrophe entgegengehen.“ Daher möchte er noch vor der Bundestagswahl 2021 einen „parteiübergreifenden Konsens über die klimapolitischen Handlungsnotwendigkeiten herbeiführen“, der auch die parlamentarische Opposition und die relevanten gesellschaftlichen Gruppen einschließt. Bundestag und Bundesrat sollen diesen Konsens als „historischen Kompromiss zwischen Klima und Wirtschaft“ verbindlich beschließen. (Hier ist er wieder, der Deal! Ob der Minister meint, dass das Klima zu einem Deal bereit ist?)
Dazu unterbreitet Peter Altmaier 20 konkrete Vorschläge. U.a. möchte er eine „Klima-Garantie“ und eine „Wirtschafts-Garantie“ festschreiben, die den Staat verpflichtet, alle notwendigen Klimaschutzmaßnahmen zügig zu ergreifen und dabei alle finanziellen Belastungen der Wirtschaft auszugleichen. Öffentliche Einrichtungen sollen bereits 2035 klimaneutral sein. Dabei soll allen, die es geschafft haben, ihre Klimaneutralität durch ein „marktwirtschaftliches Zertifizierungssystem“ bescheinigt werden (so eine Art Klima-TÜV-Siegel). Es soll sichergestellt werden, dass die für die Klimawende notwendigen Mengen an grünem Strom und grünem Wasserstoff zu jedem Zeitpunkt tatsächlich zur Verfügung stehen. Auf regulatorische Eingriffe soll möglichst verzichtet werden. Stattdessen wird auf „marktwirtschaftliche“ Methoden wie den Emissionshandel und die CO2-Bepreisung sowie CO2-Auktionen gesetzt. Zudem soll das Erneuerbare Energien Gesetz (EEG) reformiert und auf die EU insgesamt übertragen werden. Wie die EU soll Deutschland Grenzausgleichsabgaben für Importe einführen. Schließlich sollen diverse neue Einrichtungen den Prozess begleiten und unterstützen: eine Stiftung „Klima und Wirtschaft“, ein „Haus der Energiewende“, ein „Klima- und Wirtschaftsrat“ und eine „Klima-Universität“. Wie sagte schon Goethe im Faust: „Wer vieles bringt, wird jedem etwas bringen.“
Beide Projekte verdienen Anerkennung. Sie nehmen den Ball auf, den Wissenschaft und Umweltbewegung vor vielen Jahren ins Spiel gebracht haben und der mit der F4F-Initiative inzwischen unter jungen Menschen weltweit Millionen Anhänger gefunden hat. Im Gegensatz zu all denen, die immer noch den überwältigenden Anteil der Menschheit am Klimawandel in Abrede stellen, stellen sich die Politiker der Verantwortung und dringen auf Gegenmaßnahmen.
Man traut sich kaum zu fragen, warum erst heute, wenn sie es doch schon seit 30 Jahren wissen. Allerdings gibt es Einschränkungen, die aufhorchen lassen: Von der Leyen betont vor allem, die Menschen mitnehmen zu wollen, auch diejenigen, die über geringes Einkommen verfügen. Altmaier stellt die Zumutbarkeit der Belastungen für die Wirtschaft ins Zentrum seiner Konzeption. Also alles paletti? Können die demonstrierenden Schüler*innen und Studierenden beruhigt wieder nachhause gehen, weil die Politik endlich begriffen hat, was nötig ist, und bereit ist, das nun auch wirklich zu tun?
Misst man die Glaubwürdigkeit der Konzepte an dem, was bisher von der Politik zuwege gebracht wurde, muss man Zweifel anmelden, dass von dem, was da geschrieben steht, wirklich vieles umgesetzt werden wird. Denn bisher sind die vollzogenen oder konkret geplanten Klimaschutzmaßnahmen ja eher weniger weitreichend. Zwar wurde das 2008 vereinbarte EU-Ziel, die klimarelevanten Emissionen gegenüber dem Referenzjahr 1990 um 20% zu senken, tatsächlich erreicht, ja sogar übertroffen. Die Verschärfung der Emissionsziele auf 55% bis 2030 jedoch lehnt insbesondere die Autowirtschaft aber kategorisch ab. Und bisher hat sich die deutsche Bundesregierung im Europäischen Rat noch immer als guter Anwalt „ihrer“ Vorzeigebranche erwiesen. Auch bei dem Verbot von Glyphosat und der Vermeidung von Plastikabfällen hat sich die EU nicht gerade mit Ruhm bekleckert: Das krebserregende Pflanzenschutzmittel, das Wildbienen und andere Insekten nahezu ausgerottet hat, bleibt „vorläufig“ zugelassen. Trinkhalme und Einweggeschirr wurden verboten, die mengenmäßig weitaus größere Plastikflut der Verkaufsverpackungen wird jedoch nicht angetastet, mangels realistischer Alternativen, wie es heißt. Zudem betreibt die EU eine aggressive Handelspolitik insbesondere gegenüber Dritte-Welt-Ländern, wodurch sie die lokalen Landwirtschaftsstrukturen und letzte Naturreservate wie den Regenwald zerstören hilft und damit dem Klimawandel weiteren Vorschub leistet. Auch die derzeitige Agrarpolitik, die insbesondere die industrielle Landwirtschaft fördert, ist alles andere als nachhaltig.
Exportweltmeister Deutschland exportierte 2018 zwar 11 Millionen to Maschinen, aber auch knapp 15 Millionen to Müll. Der Kohleausstieg bis 2038 ist ebenfalls kein Ruhmesblatt. Er müsste aus Klimaschutzgründen wesentlich früher kommen und von einem ehrlichen Substitutionskonzept begleitet werden, das den angemessenen Zubau von Wind-, Wasser- und Sonnenenergie gewährleistet und nicht die Hintertür für Gas, Kohle und ev. sogar Atomkraft offen lässt, falls die Energiewende steckenbleibt, was durch die erheblichen Hürden für den von den Bürgern selbst gestalteten Ausbau von Wind- und Solaranlagen nicht unwahrscheinlich ist. Auf der anderen Seite subventioniert die Bundesrepublik z.B. den Flugverkehr und andere extrem umweltschädliche Branchen und konterkariert damit ihre eigene Umweltpolitik.
Dass Altmaier mit seiner Charta einem „grünen Wachstum“ das Wort redet, ist verständlich für einen Wirtschaftsminister, wird aber eine nachhaltige Umgestaltung Deutschlands nicht zuwege bringen. Von 12 to CO2 pro Kopf hinunter auf die zulässigen, weil weltweit verallgemeinerbaren 2 to kommen wir nicht mit Wachstum, wie grün auch immer es angemalt wird.
Im politischen Geschäft gibt es zudem Fallstricke, die bisher noch immer verhindert haben, dass anspruchsvolle Umweltschutz- und Nachhaltigkeitsziele konsequent verfolgt und umgesetzt worden sind. Schuld daran ist keineswegs allein der Lobbyismus in Berlin und Brüssel, der trotz vermeintlichen Transparenzbemühungen immer neue Blüten treibt und z.B. auch am EU Green Deal erkennbar mitgewirkt hat. In der EU gibt es eine komplizierte politische Umsetzungsarithmetik zwischen Kommission, EU Parlament und Europäischem Rat. Da mag die Kommission ambitionierte Ziele formulieren. Da mag das Parlament, wie häufig geschehen, sogar noch etwas draufpacken. Im Europäischen Rat, dem Gremium der Regierungen der Mitgliedsstaaten, wird dann immer wieder nach nationalen Partikularinteressen ausgekungelt und entschieden: Gibst Du mir dies oder das, kriegst Du von mir jenes dafür. Vieles wird schlichtweg über Jahre nicht entschieden, weil irgendwer ständig bremst. So geschehen nicht nur bei der Verhinderung ambitionierter Reduktionsziele für den Autoverkehr sondern z.B. auch in der europäischen Asylpolitik, die ein längst überfälliges gemeinsames Konzept einfach nicht zuwege bringt. Die EU schafft es ja nicht einmal, in allen Mitgliedsländern rechtsstaatliche Verhältnisse zu schaffen bzw. zu bewahren, weil dies die Rechtsstaatsbeseitiger in den jeweiligen Ländern zu verhindern wissen, wie man jüngst wieder einmal lesen konnte. Nicht zuletzt ist die EU in vielen Bereichen ein zahnloser Tiger, der auf die Umsetzungsbereitschaft der von ihr beschlossenen Maßnahmen durch die Nationalstaaten angewiesen ist und vielfach wenig tun kann, wenn diese schleppend oder gar nicht voran kommt.
Auch Deutschland hat sich bisher keineswegs als Umsetzungsmusterknabe gezeigt, wenn es galt, EU-Richtlinien in nationales Recht zu übertragen. Und dann wird ja in Deutschland im kommenden Jahr ein neuer Bundestag gewählt. Nach derzeitigem Stand der Meinungsumfragen läuft es auf Schwarz-Grün hinaus, mit einer (sehr) kleinen Chance für Rot-Rot-Grün. Da scheint es für Peter Altmaier in Berlin und Markus Söder in München offensichtlich reizvoll, sich grüner als grün zu geben, solange es nur um wohlfeile Konzeptpapiere geht, die nach der Wahl eh neu verhandelt werden müssen. Was man da vor der Wahl getönt hat, gerät mitunter recht schnell in Vergessenheit. Zudem könnte die Altmaier-Charta ja auch noch am Widerstand der uneinsichtigen Opposition oder der außerparlamentarischen Ökos scheitern.
Ich wäre froh, wenn meine skeptischen Einschätzungen sich diesmal nicht bewahrheiten würden. Wenn die Politik endlich mal das täte, was sie zwar trotz besseren Wissens bisher versäumt hat, aber sich nun in vollmundigen Plänen vornimmt. Was Wissenschaftler und Umweltaktivisten seit langem von ihr fordern. Was bisher jedoch stets in allzu kleine Häppchen zerlegt und damit wenig wirksam wurde. Auch wenn ich meine Skepsis für angebracht halte, ich stehe nicht an, Abbitte zu versprechen, wenn mich die üblichen Verdächtigen dieses Mal widerlegen würden. Denn die Natur macht keine Deals. Das hat sie oft genug bewiesen.