In diesen Tagen begehen wir den Earth Overshoot Day, deutsch: Erdüberlastungstag, wegen Corona etwas später als noch in den letzten Jahren. Die NGO Global Footprint Network ermittelt diesen Termin seit längerem auf Grundlage der Methode des ökologischen Fußabdrucks. Er besagt, in welchem Maße die Menschheit ihre natürlichen Vorräte verbraucht. In diesem Jahr lag der Tag, an dem die jährlich verfügbaren Ressourcen verbraucht sind, wegen des wirtschaftlichen und sozialen Lockdowns „erst“ am 22. August. 2018 und 2019 hatte er jeweils noch am 29. Juli gelegen. Bis in die 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts ließ der globale jährliche Ressourcenverbrauch am Ende des Jahres noch Reserven übrig, die Menschheit verzehrte also weniger, als ihr die Erde ohne Substanzverzehr verfügbar machte. Heute erreichen, runtergebrochen auf einzelne Länder, Katar und Luxemburg den Überlastungstag bereits im Februar(!) eines Jahres, die USA im März und Deutschland im April. D.h. die Menschen in diesen Ländern bräuchten also mehrere Erden, wenn sie nicht die Substanz aufbrauchen wollten, die ihnen zur Verfügung steht. Was machen wir mit Mutter Erde? Wir sind die Lebewesen, die in weitaus größtem Umfang die globalen biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse gestalten als jemals andere. Die Geologen nennen daher seit längerem das aktuelle Erdzeitalter Anthropozän . Grund genug hinzuschauen, was das bedeutet und ob und wie es änderbar ist.
Unsere Erde ist etwa 4,6 Milliarden Jahre alt, wohlgemerkt Milliarden, ein für mich unvorstellbar langer Zeitraum. Zunächst war sie ein unwirtliches Gebilde scheibenförmiger Gestalt und einem konstanten kosmischen Bombardement ausgesetzt. Der Beginn tierischen Lebens wird auf ca. 540 Millionen Jahre von heute zurück datiert, also auf einen recht kurzen Abschnitt der Erdgeschichte. Davon bilden die ersten 289 Mio. Jahre das Erdaltertum (Paläozoikum), gefolgt vom ca. 186 Mio. Jahre währenden Erdmittelalter (Mesozoikum) und der nur 66 Mio. Jahre alten Erdneuzeit (Känozoikum).
Erst seit etwa 2.6 Mio. Jahren leben Menschen auf der Erde, seit ca. 11.000 Jahren betreiben sie Ackerbau, seit ca. 8.500 Jahren Viehzucht. Dies sind die frühesten Zeichen für gestaltende Eingriffe des Menschen in die Natur, die durchweg darauf zielten, die Mühseligkeit der menschlichen Existenz zu mindern, Gefahren abzuwenden und den materiellen Wohlstand zumindest Einiger zu mehren. Und viele Jahrhunderte lang ist das ja auch im Großen und Ganzen gelungen. Wir haben es geschafft, die Lebensbedingungen zumindest der Menschen in den sog. entwickelten Ländern wesentlich zu verbessern, viele gesundheitliche Gefahren in den Griff zu bekommen und die Lebensmittelversorgung vieler Menschen zu sichern.
Deutlich tiefer als mit Sesshaftigkeit und Landwirtschaft fällt die menschliche Einwirkung auf die Natur seit Beginn der Industrialisierung (ca. ab 1800 n. Chr.) aus. In immer größerem Ausmaß werden fossile Rohstoffe abgebaut und schädliche Abgase in die Luft emittiert. Der Mensch macht sich fossile Energiequellen zunutze, steigert so die Arbeitsproduktivität, schafft aber auch neue Abhängigkeiten. Dies ist der Zeitpunkt, zu dem einige Geologen den Beginn des Anthropozäns datieren wollen. Andere sprechen sich insbesondere wegen der seither exponentiell gestiegenen Emission von Treibhausgasen und der Zündung der ersten Atombombe im Jahre 1945, die die völlige Zerstörung des Lebens durch den Menschen ermöglicht, für die Mitte des vergangenen Jahrhunderts als Beginn des Anthropozäns und damit zugleich Ende der Epoche des Holozäns aus, wie in bisher offiziell anerkannter Lesart die aktuelle Epoche der Erdneuzeit bezeichnet wird.
Was sind die Kriterien, nach denen die Geologen ihre Nomenklatur bestimmen? Es sind charakteristische Merkmale der klimatischen Verhältnisse, der geologischen Beschaffenheit der Erdkruste sowie des tierischen und pflanzlichen Lebens. Mit dem Begriff des Anthropozäns wird zum ersten Male ein tierischer Erdbewohner, der Mensch, als wesentlicher Gestalter der tierischen und pflanzlichen Lebensbedingungen sowie der Beschaffenheit von Ländern und Meeren und des Klimas als Namensgeber einer erdgeschichtlichen Epoche gewählt. Denn während in den früheren Epochen natürliche und kosmische Einflussfaktoren allein maßgeblich waren, sind es heute tatsächlich die Menschen, die die Welt in nahezu allen ihren Merkmalen prägen und gestalten. Das lässt sich zum Beispiel am CO2-Eintrag in die Atmosphäre ablesen, der noch lange nach Beginn der industriellen Revolution eher überschaubar war, seit 1950 jedoch exponentiell steigt, verursacht vor allem durch die Verbrennung der fossilen Brennstoffe Kohle, Erdöl und Gas.
Aber der vom Menschen verursachte Klimawandel ist keineswegs das einzige Feld, auf dem der Mensch die Erde gestaltet, um den immer ungleicher verteilten materiellen Wohlstand zu mehren. Wir Menschen sind wesentlich verantwortlich für das rasante Artensterben, für die Artenverschleppung von Ursprungsregionen in praktisch alle Teile der Welt. Diese bilden nicht zuletzt den Hintergrund dafür, dass neue Krankheiten entstehen bzw. von Tieren auf Menschen überspringen, wie jetzt erst Corona. Durch den Bergbau schaffen wir zahlreiche neue Minerale, die es ohne menschliches Zutun nicht auf der Erdoberfläche gäbe. Durch den Klimawandel erwärmen sich die Meere, der Meeresspiegel steigt, die Polkappen und Berggletscher schmelzen ab, Permafrostböden tauen auf. Böden erodieren oder werden versiegelt und sind auf Dauer nicht mehr landwirtschaftlich nutzbar. Fossile Ressourcen (Brennstoffe, Metalle, Sande), die in begrenztem Umfang vorhanden sind und nicht nachwachsen, werden übernutzt, Meere vermüllt und überfischt. Die Luft ist in einigen Regionen der Welt so stark verschmutzt, dass man ohne Gesichtsmasken nicht das Haus verlassen kann. Auch die Lichtverschmutzung verändert die Lebensbedingungen von Tier und Mensch. Schließlich schädigen wir uns selbst durch zunehmenden beruflichen und Freizeit-Stress sowie Zivilisationskrankheiten wie Übergewicht, Herz-Kreislauf-Krankheiten und verschiedene Formen von Krebs. Überdies zetteln Menschen immer wieder verheerende Kriege an, deren Zerstörungskraft in den Jahrhunderten stets gewachsen ist und die Millionen von Menschen töten, verletzen oder vertreiben.
Diese Beispiele, die die Situation keineswegs vollständig beschreiben, lassen überdeutlich die Richtung erkennen, in die unsere vermeintlich wohlstandsmehrenden Eingriffe in die Beschaffenheit der Erde gehen: Mit dem unersättlichen wirtschaftlichen Wachstum machen wir die Welt immer unwirtlicher, wir zerstören unsere Lebensgrundlagen, wir beschädigen die natürlichen Gleichgewichte, die sich über Jahrmillionen ohne unser Zutun oder mit allenfalls geringem menschlichen Beitrag herausgebildet haben. Durch unsere Lebensgestaltung und die allein auf Wachstum zielende Wirtschaftsweise vor allem in den Ländern der industrialisierten westlichen Hemisphäre sind wir dabei, den Ast abzusägen, auf dem wir sitzen. Und die Entwicklungsländer eifern uns nach und streben an, genauso zu werden wie wir.
Was können wir tun?
Zwei Auswege werden angeboten: Wir könnten mittels großtechnischer Ansätze des sog. Geoengineering den Versuch unternehmen, die Erde in Gegenrichtung umzugestalten. Dadurch könnten der Klimawandel und die daraus folgenden Schäden begrenzt werden. Ernsthaft? Ich meine, dadurch würde sich der Mensch erst recht zum Weltgestalter aufschwingen und die bisherigen Fehlentwicklungen potenzieren. Denn der aktuelle Zustand ist ja gerade dadurch entstanden, dass wir zur vermeintlichen Erhöhung und Sicherung unseres Wohlstands erhebliche Kollateralschäden herbeigeführt haben, die heute unser Wohlergehen erheblich gefährden. Es ist kaum zu erwarten, dass wir mit weiteren extrem tiefen Eingriffen in die Natur diese Fehler vermeiden würden.
Der zweite Ausweg scheint mir sehr viel angemessener, nämlich unsere bisherige Lebens- und Wirtschaftsweise grundsätzlich zu überdenken und neu zu gestalten, indem wir humane Strukturen stärken und Technologien mit geringerer Eingriffstiefe einsetzen, z.B. durch:
· Nutzung nachwachsender Rohstoffe und solarer Energiegewinnung
· Schaffung geschlossener Stoffkreisläufe
· Stärkung lokaler bzw. regionaler Wirtschaftsräume
· Ausbau der ökologischen Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion
· Begrenzung des auf sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten basierenden Welthandels
· Gleichberechtigte kulturelle Ausgestaltung der Globalisierung
· Weltweite Angleichung der menschlichen Lebensbedingungen.
Das ist selbstverständlich einfacher aufgeschrieben als umgesetzt. Denn es erfordert Verhaltensänderungen nicht nur der wirtschaftlich und politisch Verantwortlichen, sondern aller Menschen. Für uns in der westlichen Welt heißt es Abkehr vom Überfluss, Begrenzung auf das für ein gutes Leben Sinnvolle und Notwendige. Für die große Mehrheit in der übrigen Welt heißt es, sich zu verabschieden vom Vorbild des westlichen Lebensmodells und einen Weg zu bescheidenem Wohlstand im Einklang mit den gegebenen natürlichen Möglichkeiten zu suchen. Ich bin der festen Überzeugung (auch wenn ich diesen Politikersprech eigentlich lieber vermeide), dass dieser Weg alternativlos ist.