Kaum wird der Corona-Lockdown gelockert, meldet sich dieser Tage eine bunte Mischung von „Freiheitskämpfern“ zu Wort und artikuliert im Netz und auf Demos ihren Widerstand gegen die aus ihrer Sicht unangemessenen Einschränkungen der Reise-, Versammlungs- und anderer Freiheiten. Von den wirren Thesen einiger Verschwörungsredner abgesehen („Bill Gates will uns chippen und am Impfstoff verdienen“, „Schnaps und Knoblauch helfen besser als Kontaktverbote“) ist es allemal berechtigt, die Frage nach der Angemessenheit staatlich verordneter Freiheitsbeschränkungen zu stellen. Das Freiheitsargument wird allerdings oft auch in einem anderen Zusammenhang ge- bzw. missbraucht: Bei der Frage nach Geschwindigkeitsbeschränkungen im Straßenverkehr. Davon handelt der folgende Artikel.
In immer kürzeren Zeitabständen wird in Deutschland über ein Tempolimit auf den Straßen und Autobahnen diskutiert. Kürzlich zweimal kurz nacheinander. Erst hatte eine Regierungskommission zum Klimaschutz im Straßenverkehr ein Limit von 130 km/std. vorgeschlagen und gleich darauf vom zuständigen Verkehrsminister den Rüffel erhalten, das sei „gegen jede Vernunft“. Dann schloss sich der Deutsche Verkehrssicherheitsrat der Forderung an, um die Zahl der Verkehrstoten zu reduzieren. Die Bevölkerung ist gespalten: Gut 50% der befragten Bürger*Innen sprachen sich für ein solches Tempolimit aus, die restlichen halten es für eine unangemessene Freiheitsberaubung der Autofahrer. Kann man das so stehen lassen?
Eins ist sicher wahr: Verbote sind nicht sonderlich beliebt, egal von wem und in welchen Bereichen sie ausgesprochen werden. Immer stellen sie Begrenzungen des individuellen Handlungsspielraums dar. Und eigentlich sind wir der Meinung, selbst entscheiden zu können, was wir tun und lassen wollen. Schließlich sind wir aufgeklärte Menschen und lassen uns spätestens wenn wir volljährig sind, nicht gern etwas vorschreiben. Endlich frei, jubeln die meisten an ihrem 18. Geburtstag.
Andererseits wird sich kaum jemand dagegen aussprechen, dass Mord und Diebstahl gesetzlich verboten sind und mit empfindlichen Strafen geahndet werden. Denn wer so etwas tut, schädigt andere und das will der Gesetzgeber verhindern. Hier stimmt die überwältigende Mehrheit zu, wenn danach gefragt wird, ob diese Verbote in Ordnung sind. Im Gegenteil: Oft werden am Stammtisch drastischere Strafen gefordert, als sie von deutschen Gerichten ausgesprochen werden, in letzter Zeit vor allem dann, wenn Menschen ausländischer Herkunft beteiligt sind.
Neben dem Tempolimit gibt es allerdings weitere mögliche Verbote, die von vielen als Eingriffe in die individuelle Freiheit abgelehnt werden, nicht erst seit Corona. Verbote oder Begrenzungen von Flugreisen gehören ebenso dazu wie Einschränkungen des Speiseplans in Kantinen (Stichwort Veggie-Day). Oft betrifft das Regelungen, die aus ökologischen Gründen vorgeschlagen werden. Aber ist es wirklich etwas anderes, ob man andere Menschen schädigt oder ob man gleich der gesamten Menschheit, sich selbst eingeschlossen, Schaden zufügt, wenn man ökologisch über die Stränge schlägt? Ist es nicht so, dass wir es oft ehrlicherweise allein nicht schaffen, uns beim Umweltverbrauch soweit zu beschränken, dass wir nur so viel verbrauchen, wie die Natur schadlos hergibt? Kürzlich hat sich ein Journalist sogar gewünscht: „Schreibt mir umweltgerechtes Verhalten vor, allein kriege ich es nicht hin!“
Juristen sagen, das Recht könne sich nicht zum Zuchtmeister der Nation aufspielen. Es könne nur vorschreiben und sanktionieren, was in der Gesellschaft breit akzeptiert wird. Wenn wir gefragt werden, ob wir dafür sind, die Natur so zu erhalten, dass sie eine dauerhafte Lebensgrundlage für uns alle darstellt, stimmen die meisten von uns uneingeschränkt zu. Nur beim täglichen Handeln hapert’s bei vielen. Hier, denke ich, wird der Staat nicht umhin können, strengere Regeln und Vorschriften vorzugeben. Mit Augenmaß, aber bitte nicht mit übermäßiger Rücksicht auf die Autoindustrie, die weiterhin ihre schnellen Spritfresser auf dem Weltmarkt verkaufen will. Das zerstört unsere Lebensgrundlagen ebenso wie übermäßiger Fleischverbrauch und Billigflüge, auch wenn wir es leider nicht unmittelbar wahrnehmen, sondern nur abstrakt wissen. Vielleicht geben die notwendigen Freiheitsbeschränkungen im Zusammenhang mit Corona Anstoß dazu, auch über notwendige Freiheitsbeschränkungen im Interesse des Umwelt- und Klimaschutzes neu nachzudenken und z.B. ein generelles Tempolimit endlich in Kraft zu setzen.